Klein-Dakar liegt mitten in Buenos Aires
Geschrieben von jnwwebmaster am April 26 2010 12:04:51

Flüchtlinge

Klein-Dakar liegt mitten in Buenos Aires

Von Wolfgang Kunath

Rio de Janeiro. Eureka hat den Kulturschock schon hinter sich, aber ganz verarbeitet hat sie ihn bis heute nicht. "Als ich hier in Rio ankam, waren alle weiß, und die Frauen trugen diese kurzen Röcke", ereifert sie sich lachend, steht auf und zeigt am eigenen Hinterteil, wie kurz die Röcke in Brasilien sein können, "und die Leute küssen sich auf offener Straße - mein Gott, bei mir zuhause wäre das undenkbar!" 22 Jahre ist sie alt, vor drei Jahren floh sie mit der Hilfe eines italienischen Paters aus dem Kongo. Ihr Vater war politisch in Ungnade gefallen, der Bruder wurde von Rebellen angeschossen, weil er sich deren Zwangsrekrutierung entziehen wollte, die ganze Familie war bedroht.

Ein Schlepper schleuste sie von Kinshasa nach Rio, sie beantragte und erhielt Asyl. Aber heute ist die finanzielle Starthilfe der Vereinten Nationen längst ausgelaufen, sie hat eine Zeitlang auf der Straße gelebt, einen Job findet sie nicht. Als sie sich einmal als Kassiererin bewarb, scheiterte sie an dem Wort "refugiado", Flüchtling, in ihrem Ausweis. "Ich denke, der liebe Gott hat mich gerade etwas aus den Augen verloren", sagt sie nachdenklich. Dann setzt sie hinzu: "Am liebsten schlaf´ ich, weil ich dann von meiner Familie träume."
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Ich habe Geld auf der Bank. Hast du Geld? Nein, ich habe kein Geld. Ich habe eine Kreditkarte. Das Lehrmaterial, das beim Portugiesisch-Unterricht im Asylbewerber-Heim der Caritas von Rio de Janeiro verwendet wird, ist offenbar für Ausländer gedacht, denen nicht nur, wie den Asylsuchenden in Brasilien, 300 Reais monatlich zur Verfügung stehen - 120 Euro. Dennoch bitten, seit sich Europa fester abschottet, immer mehr in Lateinamerika um Asyl. Nach Brasilien, wo in den Neunzigern viele Angolaner strandeten, kommen zurzeit vor allem Kongolesen.

Neue Fluchtwege
Seit im Jahr 2005 die europäische Grenzschutz-Agentur Frontex ihre Arbeit aufgenommen hat, sind Kontrollen und Überwachung der EU-Außengrenzen deutlich verschärft worden. Bootsflüchtlinge aus Afrika werden immer häufiger im Mittelmeer oder vor den Kanarischen Inseln abgefangen.

Als neue Schlepperroute bildet sich deshalb die über den Atlantik nach Lateinamerika heraus. "Wir beobachten eine Suche nach neuen Zielen", sagt etwa Carolina Podesta vom argentinischen Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR).

Die Zahl der afrikanischen Migranten in Südamerika hat sich in den Jahren 2008 und 2009 verdoppelt und dürfte noch weiter ansteigen. Allein in Buenos Aires mussten bis November 2009 über 1000 Asylanträge geprüft werden - doppelt soviel wie im Vergleichszeitraum 2008.

Wer aus Afrika nach Lateinamerika flieht, riskiert häufig sein Leben. Jeder vierte afrikanische Flüchtling in Brasilien etwa ist als blinder Passagier gekommen, meist auf großen Containerschiffen - denn ein Flugticket ist unerschwinglich. Manche treten die lange Überfahrt nach Lateinamerika in kleinen Booten an.

In der Kleinstadt Bluefields an der Atlantikküste Nicaragua strandeten vor einiger Zeit 78 Somalier und Eritreer. Vier Monate zuvor hatten sie ihre Flucht begonnen und wollten in die USA. In Bluefields ließen die Schlepper sie im Stich.

Im Februar berichtete die Zeitung "La Estrella" aus Panama, kolumbianische Schlepper hätten Flüchtlinge aus Eritrea per Flieger nach Ecuador fliegen lassen. Von dort ging die Reise nach Panama, wo die Gruppe aufgegriffen wurde. (rü )
"Das erste Problem ist die Sprache", sagt Débora Alves Marques, die Sozialarbeiterin der Caritas, "manche können sich nach einem Monat verständigen, und andere bringen auch nach zwei Jahren kaum ein Wort heraus". Der Portugiesisch-Lehrer kommt selber aus dem Kongo, er spricht Französisch und Lingala. Frauen falle die neue Sprache oft noch schwerer, weil sie meist weniger Schulbildung haben und sich scheuen, die Kongolesen-Zirkel zu verlassen.

Und das zweite Problem ist die Arbeit: Die Flüchtlinge dürfen zwar - anders als in Deutschland - arbeiten, aber sie bekommen oft nichts. Wenn sie qualifiziert sind, können sie das oft nicht nachweisen. Den Unqualifizierten bietet die Caritas Berufsbildungskurse an. Aber genauso wie Eureka schlägt ihnen bei der Arbeitssuche oft Misstrauen entgegen. Die Angst der Einheimischen, die Fremden könnten ihnen etwas wegnehmen - Arbeit, Wohnraum, Krankenhausbetten - , ist beileibe keine deutsche Spezialität.

Bei "refugiado" denken viele Brasilianer nicht an "Flüchtling", sondern an "geflüchtet", also an weggelaufen - und wer weiß warum. "Man sollte von Exil reden, das klingt in Brasilien eleganter", erregt sich Leonardo Lasa Ndosi, "die vergessen doch, dass ihre Politiker und berühmten Musiker zu Zeiten der Diktatur auch nichts anderes waren als Flüchtlinge". Lasa ist Pastor einer Pfingstkirche im Viertel Bras de Pina, die nicht nur religiöses, sondern auch soziales Zentrum der Kongolesen geworden ist. Er regt sich auf über die Geringschätzung, die ihnen immer wieder entgegenschlägt: "Da tun sie so, als lebten wir auf den Bäumen, und dann fragen sich dich, ob der Kongo neben Deutschland oder bei Portugal liege!"

"Praktisch alle Länder schotten sich inzwischen mehr ab, nicht nur gegen Afrikaner, und die Krise verschärft das noch", beobachtet Cândido Feliciano da Ponte Neto, der Caritas-Direktor von Rio de Janeiro. Brasilien habe "moderne Flüchtlingsgesetze" und sei gegenüber Asylsuchenden "sehr großzügig". Und das aus alter Tradition, sagt der Caritas-Chef, der zu Zeiten der Diktatur "70 Wohnungen angemietet" hatte für die Politischen aus halb Südamerika, die von Rio aus ins europäische Exil geschleust wurden, und das "mitten in der Diktatur".

Was für den "Geist der Menschlichkeit" spreche, der in Brasilien mit seinen auch afrikanischen Wurzeln herrsche, sagt Ponte Neto. Eine gewagte These: Diese Wurzeln entstanden eher im Geist der Unmenschlichkeit - der Sklaverei.

Eine allzu herkulische Aufgabe jedenfalls bewältigt Brasilien, die zehntgrößte Wirtschaftsmacht, bei der Aufnahme der Afrikaner nicht. Die Zahlen steigen zwar deutlich - besonders hoch sind sie nicht: Etwa 4300 Flüchtlinge haben unter den 190 Millionen Brasilianern Aufnahme gefunden, jeweils die Hälfte in Rio und in São Paulo, und rund 80 Prozent davon sind Afrikaner, sagt Ponte Neto. In Deutschland lebten 2009 nach UN-Angaben rund 600000 Flüchtlinge.

Und geradezu winzig nimmt sich in Brasilien die Zahl der Asylbewerber gegen die der illegal im Land Lebenden aus - also Migranten, die keinen Anspruch auf Asyl haben und in Brasilien teils unter miesesten Bedingungen leben und arbeiten. Wie viele es sind, weiß offenbar niemand: Die katholische "Migranten-Pastorale" schätzte sie vor zwei Jahren auf 600000, das Arbeitsministerium sprach von 180000. Bei einer alle acht, neun Jahre erlassenen Amnestie ließen sich 2009 jedenfalls rund 44000 Migranten legalisieren. Die meisten kommen aus Bolivien, Paraguay oder Peru - Länder, in denen Brasilien als das erreichbare unter den gelobten Ländern gilt.
Dass, seit Europas Tore immer fester verrammelt sind, mehr Afrikaner kommen, registrieren auch die Argentinier. Vor ein paar Jahren zählten afrikanische Flüchtlinge dort nach Dutzenden, jetzt hat das UN-Flüchtlingskommissariat mehr als 3000 registriert. Das Barrio Once in Buenos Aires, ein quirliges Viertel voller kleiner Geschäfte, nennt der Volksmund bereits "Klein-Dakar", so viele Senegalesen versuchen sich dort unter Chinesen, Koreanern und Pakistani eine Existenz aufzubauen. Somalier, Eritreer und Äthiopier scheinen dagegen eher Mittelamerika anzusteuern, das sie als Sprungbrett in die USA ansehen.

Kaum einer will zurück, aber die meisten wollen weiter, zumindest am Anfang - nach Nordamerika oder Europa. Aber wer es von Brasilien aus versucht, verliert den Flüchtlingsstatus. "Ein Anreiz zum Bleiben", sagt Caritas-Chef. Aber für viele eben auch ein Grund zum Unglücklichsein, denn "die Erwartungen sind hoch, und die Realität ist die Favela", also das Elendsviertel. "Die meisten von ihnen leben wie arme Brasilianer", sagt auch Débora, "und einige klagen, in Rio hörten sie mehr Schüsse als im Kongo."

Dennoch steckt vielen auch in Brasilien noch die Angst in den Knochen. Die meisten mögen sich weder interviewen noch fotografieren lassen. Pastor Lasa fürchtet Auftragskiller aus dem Kongo: "Auch in Europa sind einige von uns so umgebracht worden".

Auch für Lasa war Brasilien nicht das gelobte Land: "Hier geht es uns eindeutig schlechter als in Europa." Aber wegen "politischer Probleme, mehr will ich dazu nicht sagen", ist er 2004 nach Matadi gefahren, den Hafen am Kongo-Fluss, den die Ozeandampfer anlaufen können. Wie er es auf ein Schiff geschafft hat, mag er nicht verraten, damit die kongolesischen Behörden dieses Schlupfloch nicht schließen.

Wohin die Fahrt ging, wusste er nicht, und es war ihm auch egal: "Niemand schleicht sich in Matadi aufs Schiff und sagt, ach, ich will ins schöne Rio. Egal wohin, Hauptsache raus aus dem Kongo!"