Ohne Schulabschluss keine Berufsausbildung
Geschrieben von jnwwebmaster am August 31 2009 05:32:07

20.08.2009: Abschlussschwierigkeiten

Ohne Schulabschluss keine Berufsausbildung: Diese einfache Logik hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen von vielen jungen Menschen, die sich in der Schule schwer tun. Im ostbrandenburgischen Bad Freienwalde gibt es für besonders benachteiligte Schüler ein ganz spezielles Angebot: Gymnasiasten sollen Lernbehinderten helfen. Es ist das 5000. Förderprojekt der Initiative dieGesellschafter.de. Doch dabei gibt es ungeahnte Probleme

VON ERIK HEIER

Sie weiß, wenn sie jetzt laut wird, wütend gar, dann hat sie verloren, für die nächsten Minuten, mindestens. Fast scheint es, als würden die Jugendlichen vor ihr auf den Schulbänken darauf lauern. Etwas liegt in der Luft.

Eben ist ein großgewachsener Junge in den Klassenraum geschlendert, die vier anderen Förderschüler sitzen schon da. Gina, Cindy, David, Kevin. "Schön, dass du da bist", sagt Anke Briese, die Frau vor den Neuntklässlern, 40 Jahre alt, glatte braune Haare, ein leicht ironisches Lächeln um die Mundwinkel. Es ist ein früher Dienstagnachmittag in der Albert-Schweitzer-Förderschule im ostbrandenburgischen Bad Freienwalde. "Ich habe keinen Bock", knurrt der fünfte Junge. Dann trottet er wieder raus, einfach so. Es ist der Moment, in dem vieles kippen könnte.

Diese Jugendlichen sind in Anke Brieses Projekt, das "Wir schaffen unseren Schulabschluss 2010" heißt, weil sie öfter Ärger haben. Konzentrationsstörungen, schlechte Zensuren, Aufmüpfigkeit, Schulschwänzen. Weil ihr Schulabschluss im nächsten Jahr arg auf den Kippe steht, den sie doch brauchen, um danach eine Berufsausbildung zu bekommen. Die ist besonders wichtig in einer Stadt, in der die Arbeitslosenquote bei 21 Prozent liegt.

Anke Briese könnte dem Jungen jetzt hinterherlaufen. Auf ihn einreden. Ihn zurückholen. Aber sie ruft ihm nur nach: "Schade, dass du gehst." Und die Körper der restlichen Schüler im Klassenraum entspannen sich sofort. Später wird Anke Briese erklären, es wäre nicht anders gegangen. Sonst wären diese 15- bis 17-Jährigen vielleicht mit aufgesprungen. Briese hätte sie dann nur sehr schwer wieder bändigen können.

Anke Briese ist Berufseinstiegsbegleiterin, sie hat sich für lernbehinderte Jugendliche das Schulabschluss-Förderkonzept ausgedacht, dreimal wöchentlich eineinhalb Stunden. Eine der Ideen: Förderschülern von ehrenamtlichen Gymnasiasten helfen zu lassen, vor allem in Mathe und Deutsch. Im Frühjahr bekam sie dafür Fördermittel bei der Initiative dieGesellschafter.de der Aktion Mensch, die im April 2006 gegründet wurde, um freie gemeinnützige Organisationen aus dem sozialen Bereich zu fördern. Ihr Konzept ist das 5000. Gesellschafter-Projekt.

Im vergangenen Februar hat die studierte Pädagogin, die seit 2004 beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands e.V. (CJD) Märkisch-Oderland angestellt ist, an der Schweitzer-Schule das Schulabschluss-Projekt gestartet. Die örtliche Agentur für Arbeit und die zuständige Berufsberaterin der Schule schickten zehn Förderschüler. Im August kommen fünf weitere Schüler dazu.

An diesem Dienstag sollen die übrig gebliebenen vier Schüler mit einem Lerntypentest herausfinden, mit welchen Sinneskanälen sie am besten Lernstoff aufnehmen können, Sehen, Lesen, Ertasten, Abschreiben, Hören. Es ist ein spezielles Programm des CJD, "Profil AC", AC steht für Assessment. Hören ist gerade dran. Anke Briese sagt: "Diese zehn Begriffe müsst ihr euch jetzt merken." Dann zählt sie auf: "Apfel, Schere, Flasche, Auto."

Kevin schließt die Augen, dreht einen Stift in der Hand herum. Bei "Auto" pustet er durch, verschränkt die Arme hinter dem Kopf, guckt weg. Anke Briese ist mit den zehn Wörtern durch. "Und nun Kopfrechnen. Drei mal elf?" Cindy flucht: "Jetzt habe ich gar nichts mehr im Kopf." Draußen kachelt ein Lastkraftwagen vorbei. Gina seufzt: "Können Sie bitte mal das Fenster zumachen?" David biegt den Kopf weit in den Nacken. Er stöhnt auf.

"Die Förderschüler kommen in aller Regel aus sozial schwachen Elternhäusern", erzählt Anke Briese. "Ihre Eltern können sich gar keine kommerziell angebotene Nachhilfe leisten. Meine Aufgabe ist, für solche Schüler andere Möglichkeiten zu organisieren." Sie sagt, ohne ehrenamtliche Helfer wäre das nicht möglich, Und: Die Gymnasiasten, die sie angesprochen hat, wollen zumeist später im sozialen Bereich arbeiten. "Das Projekt ist für sie eine gute Möglichkeit, sich schon mal zu erproben."

So haben beide etwas davon, dachte Anke Briese, als sie die Idee durchspielte. Die Förderschüler und die Gymnasiasten. Doch dann stieß sie dabei auf Probleme, mit denen sie nie im Leben gerechnet hätte: Im Moment unterrichtet Anke Briese noch allein.

Dass noch keine Gymnasiasten mit der Projektleiterin vor dieser Tafel stehen, hat Gründe, auf die Anke Briese vorher nie gekommen wäre. Profane Gründe, wie Schulbusfahrzeiten am Nachmittag. Die meisten ihrer Förderschüler wohnen in umliegenden Dörfern. Der letzte Bus fährt nach Hause schon um 15.30 Uhr. Da ist der Gymnasialunterricht gerade mal zu Ende.

Und das andere Problem ist: Die Förderschüler wollen die Gymnasiasten gar nicht. Angst, Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle. Alles mögliche. David sagt: "Da komme ich mir ja noch dümmer vor." Cindy erzählt von ihrem Cousin. Der zieht gern sein "Abi 2007"-Shirt an und sagt: "Das wirst du nie haben."

Oft gleichen sich die Fragmente der Lebenswege: Eltern getrennt, Stress mit dem neuen Freund der Mutter, Umzüge, Heim, Jugendamt, betreutes Wohnen, Geschwister, die ab der sechsten Klasse auch schwänzten. Sehr viele problembeladene Biografien.

"Ich denke, man muss sie ganz behutsam an die Arbeit mit den Gymnasiasten heranführen", sagt Anke Briese "Aber wenn dann Patenschaften entstehen, vielleicht sogar Freundschaften, kann es klappen."

dieGesellschafter.de

"In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?". Mit dieser Frage ist die Gesellschafter-Initiative der Aktion Mensch im März 2006 an die Bevölkerung herangetreten. Mittlerweile hat sich die Internetplattform dieGesellschafter.de mit rund 2,2 Millionen Besucherinnen und Besuchern und mehr als 200.000 Beiträgen zu einem wichtigen politischen Diskussionsforum in Deutschland entwickelt. Die Aktion Mensch sucht gemeinsam mit 90 Partnerorganisationen auch praktische Antworten: Über 9.500 Förderanträge für neue Initiativen sind bisher eingegangen. Außerdem steht im Internet eine kostenlose Freiwilligendatenbank bereit, die den Kontakt zwischen interessierten Ehrenamtlichen und gemeinnützigen Organisationen herstellt. Bis Ende 2009 ist die Gesellschafter-Initiative mit dem Filmfestival "ueber Macht" in über 120 Städten unterwegs. Weitere Infos auf der Projektplattform dieGesellschafter.de.

Die Langversion dieses Textes finden Sie unter:

http://foerderung.aktion-mensch.de/de/projektbeispiele/detail.php?id=127