Amadeu Antonio Stiftung
Geschrieben von jnwwebmaster am November 14 2011 18:03:49

1. IN EIGENER SACHE

Anetta Kahane

Liebe Leserinnen und Leser,

 

die terroristische Mordserie der Jenaer Neonazis erschüttert und überrascht das Land. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer, die über viele Jahre auf Aufklärung der brutalen Morde gewartet haben. Wir verstehen die Empörung der Familien und ihrer Nachbarn, die nun den Eindruck haben, dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden ihre Arbeit nicht mit der gebotenen Sorgfalt gemacht haben. Den Opfern wurde unterstellt, in gewisser Weise selbst schuld an ihrem Tod zu sein, weil die Taten als kriminelle oder ethnische Vergeltungsaktionen interpretiert wurden. Das ist ein Grund zur Empörung! Die Behörden hätten bei erfolgloser Ermittlung zumindest offen lassen müssen, dass auch ein rechtsextremer Hintergrund der Taten möglich ist. Stattdessen griff die Polizei auf Stereotype gegen Einwanderer zurück. Das ist beschämend und unverzeihlich. Die Amadeu Antonio Stiftung möchte an dieser Stelle den Familien der Opfer ausdrücklich ihr Mitgefühl ausdrücken. Der fatale Eindruck, dass in dem Fall mit zweierlei Maß ermittelt und bewertet wurde, ist ein verheerendes Zeugnis über den Zustand der deutschen Demokratie. Der Verfassungsgrundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft wurde hier missachtet. Das kann die Gesellschaft in Deutschland nicht länger hinnehmen. Denn zu ihr gehören die Einwanderer und deren Familien. Sie haben das gleiche Recht auf Schutz und Unversehrtheit wie alle anderen, die in diesem Lande leben. Es wird Zeit, dass dies endlich von Politik und Gesellschaft anerkannt und respektiert wird!

 

Damit im Zusammenhang steht der Umgang mit Rechtsextremismus. Anders als beim Linksextremismus zeigt sich hier eine Tradition der Verharmlosung rechtsextremistischer Aktivitäten. Zwar hat die Bundesregierung seit 2001 Programme gegen Rechtsextremismus aufgelegt, doch ist es noch ein langer Weg bis die Gefährdungen der demokratischen Kultur wirklich überwunden werden können. Noch immer gibt es Defizite in diesen Programmen und, was nun offenbar wird auch in der staatlichen Verfolgung rechtsextremer Täter. Der Fall der Jenaer Gruppe zeigt, dass hier ein Dunkelfeld zwischen Behörden und Naziszene entstanden ist. Das war nur möglich, weil rechtsextremer Terror nicht wirklich ernst genommen wurde. Zu oft wurde hier von Jugendgewalt ausgegangen, zu oft wurde abgewiegelt oder verharmlost, wenn es um rechte Gewalt ging. Die Opfer von Übergriffen und gegen Neonazis Engagierte wurden als Panikmacher abgestempelt. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse blieben häufig ungehört.

 

Ein besonderes Feld ist ohne Frage der Freistaat Thüringen. Hier wurde über viele Jahre fahrlässig mit der Gefahr von rechts gespielt und unkontrolliert mit V-Leuten aus der Naziszene experimentiert. Daraus entstand ein Klima, das es Nazis leicht machte, die Behörden zu manipulieren. Der Mangel an Professionalität und an Distanz zur militanten Szene war besonders unter dem ehemaligen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz Helmut Roewer ein großes Problem. In seiner Amtszeit wurden Führer der Kameradschaft Thüringer Heimatschutz als V-Leute geführt und so gut bezahlt, dass sie nach eigenen Angaben auch ihre Organisation alimentieren konnten. Helmut Roewer war es auch, der auf einer öffentlichen Veranstaltung 1999 bemerkte, dass auch das Dritte Reich seine guten Seiten gehabt habe.

 

Ein solches Klima bei den Behörden, gepaart mit einer Unterschätzung der Naziszene und dem Mangel an Wertschätzung der Opfer hat gewiss dazu beigetragen, dass die Ermittlungen keinen Erfolg hatten. Thüringen ist kein Land außerhalb der Bundesrepublik, in dem nach eigenen Regeln gehandelt werden kann. Es ist ein Skandal, dass Politik und Öffentlichkeit die Verhältnisse in Thüringen offenbar für eine Art ostdeutsche Folklore gehalten und deshalb Konsequenzen unterlassen haben. Denn wie wir heute sehen, hat derartige Duldung verheerende Auswirkungen auf die gesamte Bundesrepublik.

 

Die Amadeu Antonio Stiftung ruft daher auf, endlich Einwanderer als gleichwertige Mitglieder der deutschen Gesellschaft zu behandeln. Sie verlangt Aufklärung über das Dunkelfeld zwischen Rechtsextremisten und staatlichen Behörden. Sie fordert, den Kampf gegen Rechtsextremismus ernst zu nehmen und die Zivilgesellschaft dabei zu unterstützen, statt zu behindern. Die Amadeu Antonio Stiftung ruft alle Bürger auf, sich zu engagieren und nachzuhaken und die Opfer nicht allein zu lassen. Das sind wir ihnen schuldig.

 

Ihre Anetta Kahane

 

2. AKTUELL

182 Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt seit 1990

Nach dem aktuellen Wissen um die Taten des Neonazi-Trios muss die Liste der Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt aktualisiert werden. Insgesamt wurden seit 1990 182 Menschen Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt. Die offiziellen Statistiken sprechen allerdings nur von 47 Opfern. Auch in der Antwort auf eine kürzlich gestellte große Anfrage im Bundestag, bestätigte die Regierung erneut ihre Zählweise. "Dabei ist der Umgang mit Rechtsextremismus seitens der Behörden unprofessionell und der Umgang mit den Opferzahlen würdelos", so Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung.

 

Zur vollständigen Liste:
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990


Neonazis mordeten über Jahre ungestraft

Es klingt nach einer verschwörungstheoretischen Räuberpistole. Doch die immer neuen Meldungen nähren die Zweifel: Jahrelang mordeten Neonazis der Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) unter zwei zugedrückten Augen des Verfassungsschutzes. Zehn Menschen fielen dem Wahn des NSU zum Opfer. Von 2000 bis 2007 ermordeten die Neonazis Beate Z., Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - nach neuesten Erkenntnissen soll auch Holger G. beteiligt gewesen sein - zehn Menschen. Acht davon waren Einzelhändler und kamen aus der Türkei, ein weiterer kam aus Griechenland, eine war Polizistin. Die Zwickauer Gruppe kam regelmäßig zu Treffen des "Thüringer Heimatschutzes" (THS). Wie konnte es dem Verfassungsschutz entgangen sein, dass sich im THS eine Gruppe bildete, die mordend durch die Republik zieht? Schließlich hatte der Verfassungsschutz den Kopf des THS lange Zeit auf seiner Gehaltsliste.

 

Mehr:

www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/meldungen/neonazis-mordeten-ueber-jahre-ungestraft-2011

 

3. DIE OPFER IM BLICKPUNKT

"Döner-Morde"? Was soll das sein? Sönke Rix, Sprecher der SPD-AG "Strategien gegen Rechtsextremismus", bemerkte richtiger Weise: "Es wurden keine Döner ermordet". Jahrelang vermuteten die Behörden hinter der rassistischen Mordserie eine Verstrickung in die organisierte Kriminalität. Das ist bezeichnend für den würdelosen Umgang mit Opfern rassistischer und rechtsextremer Gewalt. Die Opfer der Mordserie waren Einzelhändler - nicht nur Verkäufer an Imbissständen. Doch gerade diese Imbissstände sind in ländlichen Regionen oftmals die einzige Sichtbarkeit von Zugewanderten. Sie stellen für Neonazis ein primäres Ziel dar. Die Ideologie der "Nationalbefreiten Zone" duldet kein Anderssein. Opferberatungsstellen und der Opferfonds CURA setzen auf die Perspektive der Betroffenen. Mit einer Spende an den Opferfonds CURA können auch Sie Betroffene unterstützen.

Mehr:
www.opferfonds-cura.de

 

4. BEDROHUNG DURCH NEONAZIS


Thüringer Heimatschutz

Der "Thüringer Heimatschutz" (THS) war von etwa 1996 bis etwa 2000 der Dachverband der thüringischen Freien Kameradschaften - unter anderem der Kameradschaft Jena, der auch die drei rechtsextremistischen TerroristInnen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Z. angehörten. Der THS bestand zweitweise aus bis zu 160 Neonazis. Zwischen dem THS und der NPD gab es eine enge Verbindung, so wurden mitunter vier der elf NPD-Kreisvorsitzenden vom THS gestellt, im Landesverband hatte der THS bis zu sieben Sitze. Auch zu Burschenschaften wie der "Jenensia" (später Normannia Jena) und zur Jungen Landsmannschaft Ostpreußen wurden enge Kontakte gepflegt.

Mehr:
www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/lexikon/t/der-thueringer-heimatschutz-ths-9721

 

Warum ein NPD-Verbot keinen Sinn macht

In der aktuellen Debatte um den Kampf gegen Rechtsterrorismus werden nun wieder die Stimmen laut, die ein Verbot der NPD fordern. Leider lässt sich damit das Problem Rechtsextremismus nicht lösen. Die NPD bietet der organisierten Neonaziszene finanzielle Absicherung durch ihre parlamentarische Arbeit. Diese Finanzspritze durchzuschneiden, wäre sicherlich ein Argument für ein Verbot. Außerdem forciert die NPD die schleichende Normalisierung des Rechtsextremismus. Das zeigte auch der Parteitag vom vergangenen Wochenende. Dennoch ist es realitätsfern, zu glauben, dass mit einem NPD-Verbot dem nun offenbaren Ausmaß an rechtsextremer Gewalt beizukommen wäre. Die Zwickauer Gruppe mordete auch ohne die NPD.

 

Mehr:
www.netz-gegen-nazis.de/artikel/neuer-npd-chef-holger-apfel-0194

 

5. SPENDENAUFRUF

Die erfolglosen Ermittlungen und die unklare Verwicklung des Verfassungsschutzes im Zusammenhang mit der Mordserie durch das Zwickauer Neonazi-Trio zeigen, dass der Staat seiner Schutzfunktion nur unzureichend nachkommen kann und Neonazis nach wie vor das Leben von Menschen bedrohen. Umso bedenklicher ist es, wenn diejenigen mit Misstrauen beäugt werden, die sich dort für eine demokratische Kultur einsetzen, wo staatliche Mittel versagen. Seit ihrer Gründung 1998 fördert die Amadeu Antonio Stiftung Initiativen, die sich gezielt gegen Rechtsextremismus und für eine demokratische Kultur einsetzen. Gerade angesichts immer stärker gekürzter Mittel für Demokratieprojekte ist es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken und engagierte Menschen vor Ort zu ermutigen und zu unterstützen. Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie die nachhaltige Förderung von demokratischer Kultur. Denn diejenigen, die sich mutig engagieren, obwohl sie täglich rassistischen Anfeindungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt sind, dürfen nicht allein gelassen werden. Daher bitten wir um Ihre Spende.

 

IMPRESSUM

IMPRESSUM

 

Copyright (c) 2011
Redaktionsschluss: 14. November 2011

 

Amadeu Antonio Stiftung
Schirmherr: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse

 
info@amadeu-antonio-stiftung.de
www.amadeu-antonio-stiftung.de
Linienstrasse 139
10115 Berlin
Tel.: 030. 240 886 10
Fax: 030. 240 886 22

 

Konto der Amadeu Antonio Stiftung:
Deutsche Bank Bensheim, BLZ 50970004, Konto 030331300