Markt, Markt und nochmals Markt
Geschrieben von jnwwebmaster am February 14 2007 19:42:12

FR vom 13.02.2007 (gescannter Bericht)

Seit der österreichische Philosoph Eric Voegelin den Begriff „politische Religion" geprägt hat (1938), um Erscheinungen profaner Glaubensmanifestation zu charakterisieren, werden Ideologien und politische Systeme daraufhin untersucht, inwieweit sie „das Göttliche in Teilinhalten der Welt" verkörpern. Wenig später, 1944, hat der französische Soziologe Raymond Aron dafür den Terminus „säkulare Religion" eingeführt; er bezeichnet so „jene Doktrinen, die in den Herzen der Zeitgenossen den Platz des geschwundenen göttlichen Glaubens einnehmen".

Bevorzugte Demonstrationsmuster für säkulare Gläubigkeit waren Nationalismus und Nationalsozialismus, orthodoxer Kommunismus, verschiedene Formen des Personenkultes, aber auch Fortschrittsglaube, Geldfetischismus und die Heiligsprechung der Arbeit als solcher, wie sie der englische Philosoph und Historiker Charles Carlyle anempfohlen und später in verschiedene (konträre) Utopien vom „Neuen Menschen" Eingang gefunden hat.

Ökonomische Phänomene und sie begleitende Theorien sind bisher vergleichsweise selten unter religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet worden. In der kleinen, unvollendet gebliebenen Arbeit „Kapitalismus als Religion" hat Walter Benjamin 1921 den modernen Kapitalismus als eine Gesellschaft der gläubigen Aufopferung charakterisiert - als eine „religiöse Bewegung", die keinen Tag verstreichen lasse, an dem sie nicht „allen sakralen Pomp" entfalte, um ihn zum „Festtag in dem fürchterlichen Sinne" zu machen, der die „äußerste Anspannung des Verehrenden" verlangt. Die religiöse Struktur des Kapitalismus nicht nur als eine durch den Pietismus begünstigte, ihm quasi entwachsene Gesellschaftsform zu verstehen, wie Max Weber, sondern als „essentiell religiöse Erscheinung", wagte Benjamin noch nicht, weil er befürchtete, in eine „maßlose Universalpolemik" zu verfallen.

Benjamins Ansatz ist unbefriedigend, weil er in der metaphorischen Deutung stecken bleibt. Er bezieht den Begriff Religion auf die Ganzheit einer Gesellschaftsformation, also generell auf Leben und Verhaltensweisen der Menschen einer Epoche. Beim Neoliberalismus liegen die Dinge anders. Mit diesem Namen verbinden wir Vorstellungen nicht der Gemeinsamkeiten einer historisch gewachsenen marktwirtschaftlichen Produktionsweise, sondern eine bestimmte Form oder Gestalt „des Kapitalismus".

Der Neoliberalismus aktiviert Theorien, die ihren Ursprung im bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts haben. Die Maxime des Klassikers der liberalen Ökonomie, Adam Smith, „Laissez faire, laissez aller!" wird zwar in der Form gemieden, aber die Illusion vom „freien Spiel der Kräfte", das den sozialen Ausgleich wie durch eine „unsichtbare Hand" von selbst regele, wird übernommen.

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Lehrsätze des Neoliberalismus werden gebetsmühlenartig wiederholt.
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Die Enthaltsamkeit des Staates gehörte zum Credo der neuzeitlichen Begründer des Liberalismus, Friedrich von Hayek und Milton Friedman, wobei von Hayek so weit ging, jede staatliche Regulierung als sozialistische Unterwanderung zu diffamieren. Der Neoliberalismus ist also eine spezielle, von bestimmten Personen zu einer bestimmten Zeit propagierte Wirtschaftstheorie. Insofern ist eine Voraussetzung für religiöses Denken gegeben, die der große Religionstheoretiker und -kritiker Ludwig Feuerbach als „Basis des Glaubens" bezeichnet hat: die Differenz zwischen der allgemeinen oder „natürlichen Vernunft" und einer besonderen, durch „besondere Wahrheiten, Privilegien und Extemtionen" (Befreiung von allgemeinen Pflichten) herausgehobenen Vernunft.

Der fundamentale Bezugspunkt jedes religiösen Systems ist Feuerbach zufolge ein absoluter Gedanke (der Gott heißen kann, allumfassende Idee oder wie bei Hegel höchste Vernunft). Daraus leiten sich weitere genuin religiöse Besonderheiten ab: der Anspruch, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, Intoleranz und Messianismus, Dogmatismus, Hörigkeit verbunden mit einer Heilserwartung, die „schroffe Abgrenzung von Out-Groups analog zur Scheidung der Christen von den Heiden" (Hans-Ulrich Welüer).

Feuerbachs Überlegungen sind in die „Dimensionen des Religiösen" eingeflossen, wie sie von den amerikanischen Religionssoziologen Charles Glock und Rodney Stark 1965 in Religion and Society in Tension formuliert und von vielen jüngeren Autoren wie Francois Bedarida, Jacques Derrida, Rene Remond, Hans-Ulrich Wehler oder Hartmut Lehmann aufgegriffen worden sind. Legen wir sie einer kritischen Betrachtung der gegenwärtig dominierenden Wirtschaftstheorie zugrunde, kommen wir zu dem Ergebnis, dass der Neoliberalismus erstaunlich präzise die Gestalt eines Glaubensystems angenommen hat.

Schon im Gründungsdokument der ersten internationalen Vereinigung neoliberaler Ökonomen, der Mont-Pelerin-Gesellschaft (1947), ist von „einem schwindenden Glauben (!) an das Privateigentum und an Wettbewerbsmärkte" die Rede, der wiederherzustellen sei. Der freie Markt war für ' Friedrich von Hayek das höchste und letzte Prinzip der gesellschaftlichen Evolution, die höchste Autorität, von der alle Parameter des Handelns abzuleiten seien - auch die Legitimation des Staates, die nicht vom Volkssouverän, sondern vom Erfolg der Wirtschaft ausgeht.

Das Absolute der neoliberalen Schule ist der „freie Markt". In der Praxis des Shareholder-Kapitalismus entäußert sich die allen gesellschaftlichen Bedingtheiten übergeordnete Markt-Instanz in der Absolutheit des Gewinns. Dem Bekenntnis zu dessen Absolutheit hat der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn, mit dem Deutschland rettenden Ruf „Markt, Markt und nochmals Markt!" beredten Ausdruck verschafft. Wenn der Arbeitsmarkt den „reinen Marktgesetzen" unterworfen wäre, brauchte es keine Arbeitslosigkeit zu geben, wären Kündigungsschutz, Tarifverträge, Sozialunion europäischer Länder und übrigens auch Gewerkschaften überflüssig.

Smith Annahme von der Selbstregulation des Marktes, der alle gesellschaftlichen Probleme löse, wenn man das Kapital gewähren lässt, ist ideologisch und daher für religiöse Implikationen besonders anfällig. Schon Alexander Rüstow (1885-1963), einer der Geburtshelfer des Ordoliberalismus, hatte Smith' „unsichtbare Hand" mit einer „quasi-religiösen Befangenheit" in der Tradition des Spinozismus erklärt, wonach alles auf der Erde gottgelenkt sei, demzufolge jede menschliche „Regulierung" schädlich.

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DER AUTOR
• Jens Grandt ist freier Publizist und Autor des Buches „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens", das vor kurzem im Vertag Westfälisches Dampfboot erschienen ist.

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Der Markt des Adam Smith und von Hayek setzt voraus, dass alle Kapitaleigner zum Wohlergehen der Gemeinschaft investieren und für Beschäftigung sorgen; es ist ein utopischer Markt.

Trotzdem wurde und wird die Theorie der „vollkommenen Märkte" von der Main-stream-Ökonomie als Garant für Wachstum und soziale Sicherheit betrachtet. „Diese Hoffnung gründet sich eher auf Glauben - besonders bei denjenigen, die davon profitieren - als auf Wissenschaft", meinte dazu Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz. Philippe Burrin und andere haben nachgewiesen, dass sich säkulare Religionen fast immer mit einem Mantel pseudowissenschaftlicher Lehren umgeben (Rassentheorie des Nationalsozialismus, „wissenschaftlicher" Kommunismus), die als unbezweifelbare, letztgültige Gewissheit verkündet werden. Erinnern wir uns an die stereotypen Beschwörungen der „Wirtschaftsweisen" und der die Theorien umsetzenden Politiker: Es gibt keine Alternative. Auch hier eine vergleichbare Konstellation: Die Behauptung absoluter, theologisch gesprochen, „göttlicher" Wahrheiten kennzeichnet jeden konfessionellen Glauben.

Lehre und Lehrsätze des Neoliberalismus sind zu Dogmen erstarrt, die „gebetsmühlenartig" wiederholt und zu Mythen stilisiert werden. Welche Bedeutung der Dogmatik in theologischen Systemen zukommt, ist bekannt.

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Von der Selbst regulation des Marktes geht eine Heilserwartung aus.
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Bezüglich weltlicher Glaubensgebilde war Georg Simmel der Meinung, für alle „schwach oder gar nicht religiösen Menschen" sei „das Dogma die einzige Möglichkeit einer irgendwie religiösen Existenz". (Das beste Beispiel hierfür bietet der orthodoxe Marxismus-Leninismus.) Um nur einige kanonische Floskeln zu nennen, die ihren Ursprung in den Think Tanks der Neoliberalen haben: Wenn es den Unternehmen gut geht, geht es der Gesellschaft gut. Lohnkosten müssen gesenkt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen. Die Arbeitszeit ist zu verlängern, damit durch mehr Produkte die Kaufkraft gefördert wird. Strengstes Sparen konsolidiert den Staatshaushalt.

Prüfstein der Lehre ist aber die Praxis. Seit Ende der siebziger Jahre hat die politische Elite gemäß den Ratschlägen der neoliberalen Theoretiker regiert. Keines der Ziele wurde erreicht. Statt die Arbeitslosigkeit zu senken, hat sie sich in Deutschland über die Jahre auf einem Stand zwischen vier und fünf Millionen eingepegelt. Trotz der Sparorgien hat die Staatsverschuldung in dem betrachteten Zeitraum zugenommen. Die Sozialsysteme sind labil. Das Ziel des Lissabon-Gipfels, Europa zur führenden Wirtschaftsmacht zu entwickeln, ist in weite Ferne gerückt. Dessen ungeachtet wurde dreißig Jahre lang an den neoliberalen Doktrinen festgehalten. Doch sie halten keiner ernsthaften ökonomischen Prüfung stand, sondern beruhen auf einem Wunschdenken, das Feuerbach zufolge das „Grundwesen und Prinzip der Religion" ausmacht.

Man kann noch viele weitere religiöse „Dimensionen" des Neoliberalismus finden: Vom Markt mit seinen angeblichen Selbstregulierungskräften geht eine Heilserwartung bzw. ein Heilsversprechen aus - das sich erfüllt, wenn die Gemeinschaft Opfer erbringt, um die Gottheit Markt in guter Verfassung zu halten. Verfehlungen müssen gesühnt werden: Die Deutschen haben gesündigt, weil sie „über ihre Verhältnisse gelebt" haben; jetzt müssen sie durch ein Tal der Tränen, an dessen Ende Wohlstand, Arbeit und Glück winken. Wer Alternativen vertritt, wie etwa Oskar Lafontaine, wird als Häretiker aus der community ausgegrenzt. Die neoliberale Lehre hat sich des Staates bemächtigt und ist zur Staatsreligion geworden. Dem steht das Paradox nicht entgegen, dass auch ein Teil des Staates geopfert werden soll, nämlich dessen sozial regulierende Funktion,

Auf die „Systeme der politischen Ökonomie" bezogen, die Schumpeter zufolge von der sachgerechten Ökonomischen Analyse zu unterscheiden sind, könnten wir von einem Wirtschaftsglauben oder in Anlehnung an den Begriff „politische Religion" von „ökonomistischer Religion" sprechen. Alle Feuerbachschen Wesensbestimmungen von Religion treffen auf den Neoliberalismus zu. Mit einer Ausnahme: der emphatischen Gefühlsschwelgerei. Aber auch diese Lücke sucht die Politik, beginnend mit der Patriotismusdiskussion 2004 und der Kampagne „Du bist Deutschland" eifrig zu schließen.