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Mit verschränkten Armen

Flüchtlingsboot nahe der kanarischen Inseln im Juni 2008: © Dèsirée Martín / AFP / Getty Images

Flüchtlingsboot nahe der kanarischen Inseln im Juni 2008: © Dèsirée Martín / AFP / Getty Images

Amnesty Journal April 2009

Mit verschränkten Armen

Jedes Jahr sterben Tausende bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die Grenzschutz­agentur Frontex soll die illegale Einreise effektiver verhindern als bisher. Deswegen lagert sie ihre Kontrollen immer häufiger an die afrikanische Küste aus.

Es sind schaurige Zahlen, die der Internetblog "No Fortress Europe" zusammengestellt hat: Die Auswertung von Presseberichten seit dem Jahr 1988 hat ergeben, dass bis heute 9.383 Personen im Mittelmeer und im Atlantischen Ozean bei dem Versuch nach Europa zu gelangen, starben. Trotzdem nehmen jedes Jahr Tausende Personen den gefährlichen Weg in kleinen und häufig seeuntauglichen Booten auf sich - in der Hoffnung auf Schutz oder ein besseres Leben.

Europa empfängt sie jedoch nicht mit offenen Armen. Zwar hat sich die Europäische Union im Amsterdamer Vertrag 1999 die Schaffung eines "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" auf die Fahnen geschrieben. Dieses Versprechen wirkt jedoch nur nach innen. Denn während zwischen den EU-Mitgliedstaaten die Grenzkontrollen abgeschafft werden und der Grundsatz der Freizügigkeit für EU-Bürger gilt, wird der Raum nach außen hin abgeschottet. Zuwanderung wird ausschließlich unter dem Aspekt der Bekämpfung illegaler Migration und Einwanderung betrachtet und als Sicherheitsproblem behandelt.

Die Flüchtlingsdramen werden zwar wahrgenommen. Bei der Verabschiedung des "Haager Programms zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der EU" 2004, das die Arbeit der Union in diesem Bereich für die Jahre 2005 bis 2010 skizziert, verlieh der Europäische Rat seiner großen Besorgnis "über die menschlichen Tragödien Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen abspielen, illegal in die EU einzureisen". Der Blickwinkel ist dabei allerdings auf die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und Regulierung der Wanderungsbewegungen gerichtet. Entsprechend liegt der Schwerpunkt des Programms darin, die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten auszubauen, die Rückkehr- und Rückübernahmepolitik zu intensivieren und die Außengrenzen durch das integrierte Grenzschutzsystem zu verstärken.

Im Zentrum dieses Grenzschutzsystems steht die im Mai 2005 eingerichtete Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, kurz Frontex (von frz. frontières extérieures). Es handelt sich um eine Gemeinschaftsagentur der Europäischen Union mit eigener Rechtspersönlichkeit und Sitz in Warschau. Hauptaufgabe von Frontex ist der Schutz der Außengrenzen durch die Koordination der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und ihrer bedarfsweisen konkreten technischen und operativen Unterstützung. Außerdem bildet sie Grenzschutzbeamte aus und organisiert Rückführungsaktionen.

Frontex ist somit keine eigenständige Grenzschutzpolizei, sondern eine Agentur zur Harmonisierung und fortschreitenden Weiterentwicklung des europäisierten Grenzschutzes. Sie koordiniert die Zusammenarbeit der Einsatzkräfte und -mittel der Mitgliedstaaten, indem sie einerseits eine Datenbank für technische Ausrüstungsgegenstände (Schiffe, Hubschrauber, mobile Radarstationen, Nachtsichtgeräte etc.) und verfügbare Grenzschutzspezialisten der Mitgliedstaaten führt. Andererseits arbeitet sie auf der Grundlage einer nachrichtendienstlich ausgerichteten Risikoanalyse gemeinsame Operationen aus und unterstützt diese. Die konkrete Durchführung der Operationen verbleibt aber in den Händen der Mitgliedstaaten.

Aktionsschwerpunkt der koordinierten Einsätze war in den vergangenen Jahren der Mittelmeerraum. Hier führte Frontex in den Jahren 2005 bis 2008 insgesamt sechs Einsätze durch. Bekannt wurden vor allem die drei großen Operationen Hera vor den Kanarischen Inseln und der Küste Westafrikas, Nautilus zwischen Libyen und Tunesien sowie Italien und Malta und Poseidon im östlichen Mittelmeer, insbesondere vor der Küste Griechenlands.

Ziel der Frontex-Einsätze im Mittelmeer ist der konsequente Stopp illegaler Einwanderung durch Verhinderung der Einreise. Aus den Tätigkeitsberichten von Frontex ergibt sich, wie diese Abwehr aussieht: Der Jahresbericht 2006 beschreibt die Operation Hera II und berichtet, dass im Einsatzzeitraum von August bis Dezember 2006 insgesamt "3.887 illegale Einwanderer in 57 Cayucos (kleine Fischerboote) in der Nähe der afrikanischen Küste abgefangen und umgelenkt wurden". Aus der offiziellen Statistik des Einsatzes Hera 2008 geht hervor, dass Frontex in diesem Jahr 5.909 Menschen auf hoher See oder vor den Küsten Afrikas abgedrängt hat. Frontex führt dazu aus, dass die abgedrängten Personen entweder überzeugt worden seien, umzukehren, oder sie seien zum nächsten Hafen (Senegal oder Mauretanien) zurückeskortiert worden.

Für Hera wurden Vereinbarungen mit Mauretanien und Senegal getroffen. Seitdem dürfen Frontex-Schiffe unter Beteiligung senegalesischer Soldaten direkt vor den Küsten patrouillieren, um Flüchtlingsboote zeitnah zur Umkehr zu bewegen. Dadurch wird der Grenzschutz aus dem europäischen Raum direkt vor die Küsten Afrikas verlagert.

Mit welchen Methoden Frontex bei der Abwehr von Flüchtlingsbooten vorgeht und wie die Überzeugungsarbeit bei solchen Einsätzen aussehen kann, schilderte eindrücklich der Haupteinsatzleiter der italienischen Militärpolizei in Rom, Sa­verio Manozzi, in einem SWR-Radiobeitrag im Juni 2008: "Wir wurden bei offiziellen Treffen mit Einsatzplänen und schriftlichen Befehlen konfrontiert, nach denen die Abwehr der illegalen Einwanderer darin besteht, an Bord der Schiffe zu gehen und die Lebensmittel und den Treibstoff von Bord zu entnehmen, so dass die Immigranten dann entweder unter diesen Bedingungen weiterfahren können oder aber lieber umkehren."

Mitten auf dem Meer aufgegriffene Flüchtlinge haben - ebenso wie jene, die es bis in Küstennähe schaffen - nach geltendem Völker- und Europarecht das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sie dürfen auch nicht abgeschoben werden, wenn ihnen möglicherweise Verfolgung oder Misshandlung droht. Ein faires Asylverfahren, das rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht wird, kann allerdings nicht ad hoc auf den Einsatzschiffen erfolgen. Die bei den Einsätzen aufgegriffenen Personen müssen daher auf das europäische Festland gebracht werden. Nur hier ist die Durchführung eines Asylverfahrens möglich, das völkerrechtlichen Standards gerecht wird.
Die EU-Staaten dürfen sich dieser Verpflichtung auch nicht dadurch einfach entledigen, indem sie die Grenzkontrollen weit vor die eigentliche Grenze und auf die Hohe See vorverlagern. Dies hat ein von Amnesty International, der Stiftung Pro Asyl und dem Forum Menschenrechte in Auftrag gegebenes Gutachten im September 2007 eindeutig belegt.

Es liegt auf der Hand, dass bei dem pauschalen Ansatz der Frontex-Operationen, Menschen zurückzudrängen, nicht geprüft werden kann, ob sich darunter Flüchtlinge befinden, die Anspruch auf Schutz in der EU haben. Fakt ist jedoch, dass sich unter den Bootsflüchtlingen regelmäßig Menschen befinden, die vor Verfolgung in ihrem Heimatland fliehen. Nach Angaben des UNHCR beantragen etwa 70 Prozent der Personen, die Malta über das Mittelmeer erreichen, dort Asyl und knapp die Hälfte wird als schutzbedürftig anerkannt. Dies wird durch den Frontex-Tätigkeitsbericht 2007 bestätigt: Dieser gibt an, dass die auf Malta ankommenden Einwanderer hauptsächlich aus Eritrea, Somalia, Äthiopien und Nigeria stammten - alles Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

Um eine effektive Umsetzung der menschenrechtlichen Standards auch im Einsatz zu garantieren, sollte daher ein verbindlicher Verhaltenskodex ausgearbeitet und den Grenzschutzbeamten in Schulungen vermittelt werden. Um so kritikwürdiger ist es, dass im Sommer 2008 eine EU-Arbeitsgruppe gescheitert ist, die mit der Erarbeitung von so genannten Leitlinien für den Umgang mit Schutzsuchenden, die bei Frontex-Operationen auf See angetroffen werden, betraut war.

Zwar wurde im Juni 2008 eine Kooperationsvereinbarung zwischen Frontex und dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge geschlossen, die unter anderem eine Zusammenarbeit bei Schulungen insbesondere im Hinblick auf menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards und die Entsendung eines Liaison-Beamten des UNHCR nach Warschau vorsieht.

Dies kann aber nicht mehr als ein Anfang sein. Zwingend erforderlich ist ein dauerhaftes und unabhängiges System, das die Einhaltung der Menschenrechte im Rahmen dieser Missionen überwacht und eine effektive parlamentarische Kontrolle ermöglicht. Zudem muss sichergestellt werden, dass in Fällen, in denen Menschen bei diesen Einsätzen zu Tode kommen, strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden. Will die EU ihrem Selbstverständnis einer Wertegemeinschaft gerecht werden, muss die derzeit geplante Mandatserweiterung von Frontex vor allem zu einer stärkeren Verankerung der menschen- und flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen führen.

Von Kerstin Wierse
Die Autorin ist Landesbeauftragte für politische Flüchtlinge von Amnesty International in Hessen.

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